[English version below]
Den Autoren Dirk Bernemann brauchen wir Euch an dieser Stelle wohl kaum mehr vorstellen. Schließlich dürfte der Mann, der die Unschuld bereits dreimal hat Kotzen sehen, allen auch nur einigermaßen Literaturinteressierten ein Begriff sein. Seine Werke genießen gerade auch in der Düsterszene einigen Kultstatus. Seit Freitag ist sein neues Buch „Asoziales Wohnen: Hinter jeder Tür eine eigene Vorstellung von Leben“ erhältlich. Ich habe es gelesen und sage Euch, was davon zu halten ist.
Wer Bernemanns Bücher kennt, weiß: lustvolles Fabulieren ist eine seiner Stärken. Es ist ein vergnügliches Erlebnis, seine Satz- und Wortkonstrukte zu konsumieren, die manchmal erheiternd, manchmal verstörend, manchmal hochelegant und manchmal wie ein Schlag mitten in die Fresse sind. Und so konsequent, wie Bernemann in der Schilderung manchmal ziemlich drastischer Schicksale ist, so konsequent ist er auch in einem anderen Punkt: der stetigen Verfeinerung seines Stils. Mit seinem inzwischen achten Buch dürfte er nun wohl den bisherigen Höhepunkt seines Schaffens erreicht haben.
In seinen Büchern serviert Bernemann gerne Mal überschaubare Happen, die zwar schnell konsumiert, mitunter aber schwer verdaulich sind. In „Asozial Wohnen“ ist das nicht anders. Der große, übergeordnete Kontext ist ein gesichtsloses Mehrfamilienhaus, irgendwo in Deutschland. Ohne es genauer zu benennen hat man als Leser sofort eine der grauen Mietskasernen Marke Plattenbau vor Augen, wie sie in Wolfsburg-Westhagen beispielsweise üblich sind. Oder in Berlin-Marzahn. Und natürlich leben in diesem Haus verschiedene Mietparteien. Da ist etwa der ach so schöne Jungspund, immer auf der Suche nach der großen Liebe – und doch unfähig, sie zu erleben oder passieren zu lassen. Da ist das alte Ehepaar, dass seine Tage damit verbringt, auf den Tod zu warten.
Da ist die Single-Frau, die tagsüber an der Supermarktkasse hängt und abends ihren Frust mit Weingummis wegfrisst. Die scheinbar intakte Familie, bei der bis auf das Baby alle eine Fassade tragen. Der verstümmelte Dachgeschossbewohner, der niemals die Tür aufmacht. Der Autor, der lieber säuft, raucht und vögelt anstatt etwas Anständiges zu Papier zu bringen. Und die definitiv nicht intakte Familie, wo Papa Mama verhaut und die Tochter infolgedessen beschließt, nicht mehr zu sprechen. Besuche beim Kinderpsychologen inklusive. Und dann ist da ja auch noch Sören, der klassische, dicke Computernerd, der mit 35 noch immer nach der Pfeife seiner Mutter tanzt, im Internet als cooler Rapper posiert und sich mit einer 13-jährigen Nachrichten über ein soziales Netzwerk schickt. Mit anderen Worten: rundherum kaputte Typen in diesem ach so schönen Haus.
Bernemann erzählt die Geschichten seiner Protagonist*innen in überschaubaren Kapiteln, verteilt auf eine Woche, unterteilt in die einzelnen Wohnungen. Und bereits am ersten Tag, an dem vermeintlich die Welt noch in Ordnung ist – jedenfalls so in Ordnung, wie sie in den teilweise sehr abgefuckten Leben seiner Figuren nur sein kann – ziehen dunkle Wolken über dem Haus auf. Und natürlich: je weiter die Woche voran schreitet und somit die Handlung, umso dramatischer und drastischer werden die Schicksale der Charaktere. Um nicht zu sehr zu spoilern nur ein paar Beispiele: bei dem alten Paar kommt, wie es kommen muss. Einer der Eheleute verstirbt – und der andere hat es mit dem Entfernen des Leichnams aus dem Ehebett nicht sonderlich eilig. Die scheinbar intakte Familie bekommt deutliche Risse in der Fassade, nachdem die Frau festgestellt hat, dass der gemeinsame Traum vom eigenen Haus eben doch kein gemeinsamer Traum ist. Und bei der definitiv nicht intakten Familie eskaliert die Situation ebenfalls, was die Tochter in die Arme des Aliens aus der Dachgeschosswohnung treibt. Was wiederum zu weiteren Situationen führt, die mit „Arsch ab“ passend umschrieben sind.
Ich bin mir sicher, jede*r von Euch ist schon mal durch die Flure eines größeren Hauses gelaufen, hat einen mehr oder weniger flüchtigen Blick auf die Namen an den Klingelschildern geworfen und sich bei den Geräuschen und Gerüchen, die durch die schmalen Ritzen nach draußen dringen gefragt, was für eine Art Leben sich wohl hinter den Türen abspielen mag. Und genau das ist das Thema von Bernemanns „Asozial Wohnen“. Die einzelnen Leben, die hier skizziert werden, sind der allgegenwärtigen Frage untergeordnet: wie wirkt sich die individuelle Wohnsituation auf das Leben aus? Sind 60 oder 80qm wirklich genug für eine fünfköpfige Familie? Wie verändert es Menschen, wenn man tagein tagaus mit der gleichen Person konfrontiert ist und Rückzugsorte entweder nicht vorhanden sind oder eine gelegentliche Flucht aus dem Alltag nicht unternommen wird? Machen all die schönen, aber nutzlosen Dinge, die in einer Wohnung herumstehen und deren Hauptzweck es ist, zu verstauben, das Leben wirklich besser oder angenehmer? Und ist es wirklich eine gute Idee – schwerer Unfall hin oder her – sein Leben damit zu verbringen, in den ewig gleichen vier Wänden zu
hocken, sich von Mikrowellenfutter zu ernähren und ansonsten keinen Kontakt mit der Außenwelt zu
haben?
Da wir es hier mit einem Buch von Dirk Bernemann zu tun haben, sollte Eure Erwartung bezüglich eines glücklichen Endes deutlich nach unten reduziert werden. Wie bereits erwähnt – der Verlauf der Woche ist eine Spirale, die nur in eine Richtung führt: abwärts. Daher sind Tod und Verderben – in mitunter ziemlich krasser Ausprägung – fortwährende Begleiter der Hausbewohner. Aber man liest Bernemann ja auch nicht, weil man in rosa Plüschwatte gebettet werden möchte, sondern weil man sich dieser morbiden Faszination aus Neugier und Ekel vor dem Spiegelbild der Gesellschaft, der uns hier vorgehalten wird, nicht entziehen kann. Ist ein bisschen wie mit dem todgefahrenen Viechern auf der Autobahn. Finden auch alle irgendwie unangenehm, hingucken muss aber trotzdem jede*r.
„Asoziales Wohnen“ ist für mich das bisher beste Werk aus der Feder Dirk Bernemanns. Wortgewaltig zeichnet er hier Bilder verschiedener Menschen bzw. Schicksale, wie sie wahrscheinlich tagein, tagaus überall in unserem Land stattfinden. Sicher, sauber und satt werden hier Leben mit voller Wucht an die Wand gefahren, einfach weil das tägliche Gefängnis, die eigene Wohnung und die zugehörigen Begleitumstände, die Insassen oder Bewohner*innen erdrücken. Möglicherweise auch ein Gefühl, dass manchen unter Euch vielleicht kein unbekanntes ist. So richtig geil ist das alles nicht, andererseits könnte es ja aber auch schlimmer sein. Wie dieses Büchlein zeigt, bedarf es manchmal nur eine Reihe von unglücklichen, miteinander verknüpften Umständen oder eines dummen Zufalls, und das Leben fällt aus der Spur. Wie dem auch sei: Dirk-Bernemann-Fans nehmen dieses Buch sowieso mit. Und alle anderen, denen der Sinn zur Abwechslung mal nicht nach Thriller oder Fantasyquatsch steht, bitte auch.
At this point, Dirk Bernemann probably doesn’t need much of an introduction. After all, the man who witnessed innocence vomit three times is likely familiar to anyone even remotely interested in contemporary literature. His works have also earned a certain cult status within darker literary circles. Since Friday, his latest book, "Asoziales Wohnen: Hinter jeder Tür eine eigene Vorstellung von Leben" (roughly translated as "Asocial Living: Behind Each Door a Different Idea of Life"), is available. I’ve read it and I'm here to tell you what to expect.
Those familiar with Bernemann's books know that one of his strengths is delightfully playful prose. Reading his constructions of sentences and words is an entertaining experience—sometimes amusing, sometimes disturbing, sometimes elegant, and occasionally like a punch right to the face. And just as Bernemann consistently delivers brutally honest portrayals of grim realities, he's equally consistent in refining his style. With his eighth book, he’s arguably reached a new peak in his literary journey.
Bernemann often dishes out bite-sized narratives that are quick to consume but occasionally difficult to digest, and "Asoziales Wohnen" is no different. The overarching setting is a faceless apartment building somewhere in Germany—without explicitly saying it, readers will immediately picture one of those gray prefab buildings found in Wolfsburg-Westhagen or Berlin-Marzahn. Naturally, various tenants occupy the apartments. There's the young pretty-boy perpetually searching for true love, yet incapable of actually experiencing it. There's the elderly couple spending their days just waiting for death.
Then there’s the single woman who works a supermarket checkout by day and drowns her frustrations in gummy candy by night. The seemingly perfect family whose members—aside from the baby—all hide behind a facade. The mutilated guy in the attic apartment who never opens his door. The author who prefers drinking, smoking, and casual sex over producing any decent writing. And then there’s the definitively dysfunctional family where Dad beats Mom, causing their daughter to decide never to speak again—therapy sessions included. And let’s not forget Sören, the stereotypical overweight computer nerd, who at 35 still dances to his mother's tune, poses online as a cool rapper, and exchanges messages with a 13-year-old girl on social media. In other words, a collection of deeply messed-up characters living in this charming building.
Bernemann narrates these characters' stories in short chapters covering a single week, separated by their apartments. Already on the first day, when life still seems normal—or at least as normal as it gets in these twisted lives—dark clouds begin to gather over the building. Naturally, as the week progresses and events unfold, the residents’ fates become increasingly dramatic and grim. Without spoiling too much: the elderly couple meets the expected fate when one partner passes away—and the survivor isn't exactly in a hurry to remove the body from their shared bed. The apparently stable family sees cracks forming after the mother realizes that their dream of owning a home wasn’t shared after all. Meanwhile, the dysfunctional family's situation escalates, driving the daughter into the arms of the "alien" in the attic, leading to a series of events aptly described as "totally messed up."
I’m sure everyone has walked down the hallway of a large apartment building at some point, glancing briefly at the names on doorbells, wondering what kind of lives unfold behind those doors as sounds and smells seep through cracks. That’s exactly the theme of Bernemann’s "Asoziales Wohnen." The individual lives sketched here address a pervasive question: How does one's living situation impact their life? Are 60 or 80 square meters genuinely enough for a family of five? How are people affected when they're stuck facing the same person day after day with little privacy or chance to escape their routine? Do all those beautiful yet useless objects accumulating dust truly improve quality of life? And is it really wise—serious injury or not—to spend one's existence confined within the same four walls, subsisting on microwave meals and avoiding all external contact?
Since this is a book by Dirk Bernemann, you should significantly lower your expectations for a happy ending. As mentioned earlier, the trajectory of the week is a downward spiral. Death and destruction—in some pretty graphic forms—become constant companions of the building's residents. But you don’t read Bernemann to be gently cocooned in pink fluff; rather, it’s that morbid fascination, a blend of curiosity and revulsion at this mirror image of society, which is impossible to resist. It’s a bit like roadkill on the highway: everyone finds it unpleasant, yet we all look anyway.
"Asoziales Wohnen" is, for me, Dirk Bernemann’s finest work to date. He vividly portrays characters and fates likely unfolding daily across our country. Lives that are secure, clean, and comfortable suddenly crash violently into walls, overwhelmed by their domestic prisons and accompanying circumstances. Perhaps this is a feeling some readers may find disturbingly familiar. None of it is particularly appealing, though, admittedly, things could always be worse. As this book demonstrates, sometimes all it takes is a string of unfortunate coincidences or dumb luck to derail life entirely. In any case, Bernemann fans will pick this up without hesitation. And anyone else looking for something beyond the usual thriller or fantasy fare should definitely give it a read too.
Roman Empire