[English version below]
So, dann nehmt mal bitte Stifte und Hefter raus, wir schreiben einen Aufsatz über „Woyzeck“. Nein, Spaß. Machen wir natürlich nicht, der Einzige, der hier wieder einen Aufsatz fabulieren wird, bin ich. Dennoch gehe ich jede Wette ein, dass die bloße Erwähnung von Georg Büchners Dramenfragment, das er der Überlieferung nach 1836 begonnen, mangels Weiterleben ab Februar 1837 jedoch leider nie fertigstellen konnte, bei vielen von Euch Erinnerungen an die Schulzeit weckt. Die Geschichte des einfachen Soldaten Franz Woyzeck, der seine Freundin Marie am Ufer eines Sees ersticht, taugt aber nicht nur für den Schulunterricht. Auch in Kunst und Kultur hat dieses unfertige, episodenhafte Stück seit dem offiziellen Erscheinen im Jahr 1879 Einzug gehalten. Theaterstücke wurden aufgeführt, Comics darüber gezeichnet, als Film und Hörspiel wurde das Drama ebenfalls umgesetzt. Und natürlich fand „Woyzeck“ auch seinen Weg in die Musik. Und wer, wenn nicht die absolute Ausnahmeband Janus, wäre wohl mehr prädestiniert dazu, sich dieses Werks anzunehmen? Kürzlich veröffentlichte das Mainzer Duo das Konzeptalbum „Sonne“. Nach dem immer noch absolut famosen „Terror“ der nächste Teil von „All die Geister“, einem Album, das es so nicht geben wird.
Wie schon so vielen Kunstschaffenden vor ihnen lieferte die Geschichte um Woyzeck Janus die Inspiration für „Sonne“. Wer, wie der Autor dieser Zeilen, zu Schulzeiten hauptsächlich dadurch aufgefallen ist, stets bemüht und ansonsten Kreide holen gewesen zu sein, oder wo die Schulzeiten, wie ebenfalls beim Autor dieser Zeilen, schon zu lange zurückliegen, nachfolgend eine kurze Zusammenfassung.
Franz Woyzeck erarbeitet seine Taler als einfacher Soldat. Mit den paar Piepen versucht er, seine Freundin Marie und das gemeinsame, uneheliche Kind durchzubringen. Da sein Job im Dienste eines Hauptmanns jedoch nicht ausreicht, verdient sich der psychisch labile Woyzeck ein paar Taler dazu, indem er einem skrupellosen Arzt als Versuchskaninchen dient. Wie das oft so ist, wenn vermeintlich starke Menschen Macht haben über Untergebene oder Schwächere: Sowohl vom Hauptmann als auch von jenem Arzt wird Woyzeck öffentlich gedemütigt. Ziemlich sicher macht das was mit einem. Mit Woyzeck auf jeden Fall. Die treulose Marie beginnt eine Affäre mit einem Tambourmajor, Woyzeck erwischt sie und sieht seinen ohnehin schon vorher aufgekommenen Verdacht bestätigt. Stimmen in seinem Kopf befehlen ihm, Marie wegen ihrer Untreue zu ermorden. Und so steuert das Drama auf den tragischen Höhepunkt zu, an dessen Ende Woyzeck seine Marie am Ufer eines Flusses mit einem Messer erstochen haben wird.
Seid Ihr alle wieder im Boot? Prima. Dann weiter im Text. Wenn Ihr mich fragt, ist es nur konsequent und, angesichts des bisherigen Schaffens von Janus, auch folgerichtig, dass sich Texter und Sänger RIG mit Büchners Fragmenten beschäftigte. Sie um eigene Ideen sowie verschiedenste Interpretationsquellen bereicherte, um am Ende mit einer ganz eigenen Interpretation des Werkes um die Ecke zu kommen. Ich sag’ mal so: Ein Happy End ist auch hier nicht gegeben, aber das war auch kaum zu erwarten. Folgerichtig finde ich das übrigens deshalb, weil die meisten der Kernmotive von Büchners Drama, allen voran Eifersucht und psychische Störungen sowie deren Komorbiditäten, sich auch immer wieder in den Werken von Janus finden lassen. Allein die Stimmen, die Woyzeck zu hören glaubte und die ihn letztlich zu seiner schrecklichen Tat verleiteten, wecken Erinnerungen an den Vorgänger „Terror“. Das Mammut-Konzeptalbum, das sich mit dem tragischen Scheitern der Franklin-Expedition befasste, griff das Thema des Wahnsinns auf. Wenn 129 Seeleute im ewigen Eis, bei nahezu ewig dunklem Winter im Packeis festsitzen, dann kann wohl kaum noch etwas anderes passieren als die Vermutung keimen zu lassen, das Knarzen und Knacken des Schiffrumpfes käme von einem Monster, das unter der Wasseroberfläche lauert. Oder Eifersucht … erinnert sich noch jemand an „Die Ruhe selbst“ vom Album „Nachtmahr“? Also, wie gesagt: Janus und Woyzeck, das passt schon.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, nach „Terror“ ein paar neue Superlative zu finden, mit denen ich künftige Alben von Janus schmücken könnte. Leider sind mir keine eingefallen. Es gibt vermutlich auch nichts mehr, was man noch auffahren könnte, um die unfassbare Genialität des Schaffens von Janus adäquat zu umschreiben. „Sonne“ knüpft musikalisch da an, wo „Terror“ aufhöre. Es ist also wieder ein brachiales Doom-Metal-Brett geworden, das, entsprechenden Schalldruck der heimischen Anlage vorausgesetzt, einen neuen Scheitel föhnt! Im Gegensatz zum Vorgänger ist es hier aber nicht nur ein Lied mit einer Länge von rund 31 Minuten, das in Teilen gar einem Hörspiel glich, sondern die Spieldauer von rund 22 Minuten verteilt sich hier auf drei Stücke. Und auch, wenn Janus hier vielleicht nicht ganz so monumental auf die Kacke gehauen haben und nicht wieder Hunderte von Musikschaffenden in die Umsetzung ihrer Vision einbezogen wurden, gilt auch für „Sonne“: Hier wird geklotzt und nicht gekleckert!
Neben dem metallischen Gitarreninfernos mischen sich hier vermehrt elektronische Spielereien, der Kontrast aus „beinahe schon zärtliches Umschmeicheln der Gehörgänge“ und „jetzt gibt es aber volle Lotte mit dem Kantholz zentriert ins Antlitz“ ist meines Erachtens noch mehr herausgearbeitet. Dazu: Wer, wenn nicht RIG, könnte diesen schizophrenen Wahn, dem Woyzeck, vermutlich nicht zuletzt der Demütigungen und der Experimente wegen, anheimgefallen ist, besser und eindringlicher intonieren? Eben. Unfassbare Leistung, was der Mann hier ins Mikrofon wütet!
So wie das Ausgangsmaterial seit Anbeginn zahlreiche Möglichkeiten zur Interpretation bot, so steckt auch „Sonne“ so voller akustischer Gimmicks, die das Ohr aller Musiknerds erfreuen. Ich habe keine Ahnung, wie oft ich das Album bereits gehört habe, seit es in meine Mediathek eingezogen ist. Oft jedenfalls. Und stets als Direkteinspritzung via In-Ohr-Kopfhörer. Und wirklich jedes Mal sitze ich regungslos und beinahe schon atemlos da und mache nichts, als dieses Meisterwerk auf mich wirken zu lassen. Bloß nicht bewegen, bloß keine Ablenkung jetzt, damit ich ja kein Detail verpasse!
Übrigens: So wie Büchner dereinst Inspiration fand im Leben des real existierenden Johann Christian Woyzeck fand, der im Juni 1821 aus Eifersucht die Witwe Johanna Christiane Woost erstach, so zog RIG für diese zweite Erzählung aus dem „All die Geister“-Zyklus Philippe Claudels Roman „Die grauen Seelen“ mit ein. Claudels Buch handelt von dem Leben in einem französischen Dorf, bei dem alles soweit ganz schick ist, auch wenn nur wenig weiter die Schrecken des Ersten Weltkriegs über die Lande ziehen. Mit der Beschaulichkeit ist es in dem Moment vorbei, als die Leiche eines zehnjährigen Mädchens gefunden wird, erdrosselt im Kanal treibend. Es zeigt sich, dass alle und alles miteinander verbunden ist – und dass niemand frei von Schuld ist …
Auch hier ist es nur konsequent und folgerichtig, dass eine Erzählung wie die von Claudel Einzug in das Schaffen von Janus gefunden hat. Die literarischen Elemente, die vor allem im Stück „Graue Seelen“ zu hörenden, psychedelischen und an Pink Floyd erinnernden Gitarrensoli, die intensive Vortragsart – all das macht „Sonne“ zu einem Werk von einer Größe, das trotz des vermeintlich geringen Umfangs das allermeiste andere überragt. „Sonne“ steht damit neben „Terror“ auf dem gleichen Treppchen. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten: „Sonne“ ist ein Album, so groß, so mächtig, dass es selbst zur Interpretation und zum Einzug in den Musikunterricht geeignet ist. Diesen Aufsatz aber, den dürft Ihr dann gerne selbst schreiben.
Alright, everyone, get out your pens and notebooks—we're writing an essay on "Woyzeck" today. Just kidding. Of course, we’re not doing that. The only one here who's going to be rambling on about this is me. Still, I’d bet anything that just hearing the name of Georg Büchner’s dramatic fragment—started in 1836 but never completed due to his unfortunate passing in February 1837—brings back school memories for many of you.
The story of the simple soldier Franz Woyzeck, who stabs his lover Marie by the shore of a lake, isn’t just a topic for classroom discussions. This unfinished, episodic piece has found its way into art and culture since its official release in 1879. It has been adapted into plays, comics, films, and radio dramas. And, of course, "Woyzeck" has made its way into music as well. Who, if not the absolutely exceptional band Janus, could be more suited to take on this work? The Mainz-based duo recently released the concept album "Sonne." Following the still utterly brilliant "Terror," this is the next installment of "All die Geister", an album that will never actually exist in its entirety.
Like so many artists before them, Janus found inspiration in Woyzeck’s story for "Sonne." If, like the author of these lines, you were mostly known in school for "trying your best" or, alternatively, being sent to fetch chalk—or if, again like the author, your school days are long behind you—here’s a quick recap.
Franz Woyzeck makes his meager living as a simple soldier. With the little money he earns, he tries to provide for his lover Marie and their illegitimate child. But since his job as a captain’s servant isn’t enough, the mentally unstable Woyzeck earns extra cash by serving as a test subject for a ruthless doctor’s experiments. As is often the case when seemingly powerful individuals have control over subordinates or the weak, both the captain and the doctor publicly humiliate Woyzeck. That sort of thing tends to have an effect. It certainly does on Woyzeck. When his unfaithful Marie starts an affair with a drum major, he catches them together and sees his growing suspicions confirmed. Voices in his head command him to murder Marie for her betrayal. And so, the drama builds toward its tragic climax, where Woyzeck ultimately stabs Marie by the riverbank.
Everyone back on board? Great. Moving on. If you ask me, it only makes sense—and is entirely in line with Janus' previous work—that lyricist and singer RIG immersed himself in Büchner’s fragments, enriched them with his own ideas and various interpretations, and ultimately delivered a completely unique take on the material. Let’s just say this: there’s no happy ending here either—but that was never really on the table. And this makes perfect sense, considering that most of the core themes in Büchner’s drama—above all, jealousy and mental illness, along with its comorbidities—are recurring elements in Janus’ work. The very voices that Woyzeck believed he heard, which ultimately drove him to commit his terrible act, bring to mind "Terror." That mammoth concept album, which explored the tragic failure of the Franklin Expedition, dealt extensively with the theme of madness. When 129 sailors are trapped in the eternal ice, enduring nearly unbroken winter darkness, it’s hardly surprising that they start imagining the creaking and cracking of their ship’s hull as the sound of a monster lurking beneath the water. And jealousy—does anyone remember "Die Ruhe selbst" from the album "Nachtmahr"? So yeah, Janus and Woyzeck? That’s a perfect fit.
I had planned to come up with some new superlatives for describing future Janus albums after "Terror." Unfortunately, I couldn’t think of any. There probably aren’t any left to properly convey the sheer brilliance of their work. "Sonne" picks up musically right where "Terror" left off. Once again, it’s a brutally heavy doom-metal masterpiece—one that, given the right speaker volume, will blow your hair back! Unlike its predecessor, however, this isn’t a single 31-minute-long track that at times felt almost like an audio drama. Instead, its 22-minute runtime is spread across three songs. And while Janus may not have gone quite as monumentally over the top this time—recruiting hundreds of musicians to bring their vision to life—"Sonne" still makes it clear: this is a production of grandeur and ambition, not a half-hearted effort.
Alongside the metallic guitar infernos, there are more electronic elements this time. The contrast between "almost tenderly caressing your ears" and "full-force, two-by-four to the face" feels even more pronounced. And really, who other than RIG could so intensely and vividly capture the schizophrenic frenzy that Woyzeck, likely due to his humiliations and medical experiments, succumbs to? Exactly. His performance on this album is absolutely mind-blowing.
Just as the original material has always been open to countless interpretations, "Sonne" is packed with sonic intricacies that will delight any music nerd’s ears. I have no idea how many times I’ve listened to this album since it entered my library—many, for sure. And always through in-ear headphones for maximum effect. Every time, I sit there motionless, almost breathless, doing nothing but letting this masterpiece wash over me. No distractions, no movement—just absorbing every detail.
By the way: Just as Büchner once found inspiration in the real-life case of Johann Christian Woyzeck, who stabbed the widow Johanna Christiane Woost in June 1821 out of jealousy, RIG drew on Philippe Claudel’s novel "Les âmes grises" ("Grey Souls") for this second installment of the "All die Geister" cycle. Claudel’s book paints a picture of life in a French village, where everything seems peaceful—even as the horrors of World War I rage just a little further away. But the tranquility shatters when the body of a ten-year-old girl is found, strangled, floating in a canal. It soon becomes clear that everyone and everything is interconnected—and that no one is without guilt.
Once again, it feels only natural and fitting that a story like Claudel’s would find its way into Janus' work. The literary elements, the psychedelic Pink Floyd-esque guitar solos, the intense vocal delivery—all of it makes "Sonne" an album of such magnitude that, despite its relatively short length, it towers over most other works. "Sonne" stands shoulder to shoulder with "Terror." In fact, I’d even go so far as to say that "Sonne" is so powerful, so immense, that it could very well be analyzed and studied in music classes. But that essay? Yeah, you can write that one yourselves.