[English version below]
Nachdem das neulich mit „Sonne“, dem auf Georg Büchners Werk „Woyzeck“ basierenden Album von Janus, schon so gut geklappt hat, machen wir die Übung heute direkt noch einmal. Hefte und Stifte raus bitte, wir schreiben einen weiteren Aufsatz. Bietet sich ja auch an, schließlich geht es wieder um eine ganz eigenwillige, ganz spannende Verquickung von Literatur und Musik: Edgar Allan Poe und dessen Erzählung „Ligeia“. Das Leben und Werk des US-amerikanischen Schriftstellers war und ist, so kann man es wohl bezeichnen, eine scheinbar unerschöpfliche Inspirationsquelle. In den gerade mal 40 Jahren, die dem Mann irdischer Existenz beschieden waren, schrieb er unter anderem zahlreiche Kurzgeschichten, die in den Genres Kriminal- und Horror- bzw. Schauerliteratur verortet werden. Zudem sollen seine Werke spätere Science-Fiction-Autoren wie Jules Verne beeinflusst haben.
Nicht nur das Werk Poes ist bemerkenswert, auch sein Leben ist es. Und möglicherweise muss man auch mal die Frage in den Raum stellen, ob und inwiefern bei Poe vielleicht auch die Trennung von Kunst und Kunstschaffenden angebracht oder möglich ist. Ein Typ nämlich, der seine Cousine ersten Grades heiratet und dafür das Alter des Mädchens von 13 Jahren auf 21 hochmogelt uuund somit zum Zeitpunkt der Eheschließung mit 27 Jahren also mehr als doppelt so alt ist … puh. Das ist starker Tobak. Mag sein, dass das im Mai des Jahres 1836 alles völlig unproblematisch war. Das hat dennoch schon ein bisschen mehr als nur unangenehme Till-Lindemann-Vibes, welcher sich als Opa von 60 Jahren auch nochmal eine Zwanzigjährige geangelt hat. Mich schüttelt es kurz. Brrr. Ich muss an Kettcars „Kanye in Bayreuth“ denken. Die Hamburger Band greift dort das Thema auf, dass die Trennung von Kunst und Künstler*in nie einfach und Moral in diesem Zusammenhang nie objektiv sein kann. Weiter möchte ich das Fass an dieser Stelle aber auch nicht aufmachen, über das Leben von Poe können wir uns an anderer Stelle gerne noch einmal ausführlicher unterhalten. Bleiben wir bei „Ligeia“, einer sehr eigenwilligen Reinkarnationsgeschichte. Und wer, wenn nicht Janus, könnte sich dieses Themas besser annehmen? Richtig. Nur, dass wir es in diesem Fall mit einem Solo-Album von Janus-Sänger und -Texter Dirk „RIG“ Riegert zu tun haben. Der Apfel jedoch fällt nicht weit vom Stamm.
Habt Ihr Ligeia noch auf dem Schirm? Oder seid Ihr Damals™️, als das durchgekaut wurde, ebenso erfolgreich Kreide holen gewesen wie ich? Für den Fall, dass Ihr aus unbekannten Gründen keine Idee (mehr) habt, worum es geht, nachfolgend wieder eine kurze Abholung. Im Prinzip geht es um einen namenlosen Typen, der irgendwo am Rhein hausiert, weil es dort so schön ist, und sich ganz unsterblich in die örtliche Dorfschönheit Ligea verknallt. Unsterblichkeit ist überhaupt das Thema bei der Dame. Sie nämlich ist der festen Überzeugung, dass nur der menschliche Wille darüber entscheidet, ob man lebt oder krepiert. Lasst das besser mal nicht den Wendler, Naghavi, Naidoo oder Dero hören, die schwurbeln sonst noch ähnlichen Quark über ihre Telegram-Kanäle in die Welt. Zurück zu Ligeia: Der Schnitter machte ihren ach so willensstarken Ideen einen Strich durch die Rechnung und holte sie zu sich. Tja. The German answer to everything.
Unser Erzähler aber, der heiratete direkt die nächste Dorfschönheit, Rowena ihr Name. Liebe war das aber nicht. Eher so Hass, denn die gute Frau konnte vieles sein, nur eines eben nicht: Ligeia. Und auch diese Beziehung hält nicht ewig, nicht zuletzt mangels Weiterleben der jungen Frau. Doch auf dem Sterbebett, als sich Rowena immer wieder erhebt, nur um erneut in Totenstarre zu verfallen, da wird klar: Vielleicht hatte Ligeia mit ihren Vorstellungen, dem Tod die Macht zu nehmen, doch nicht nur Unfug in die Welt postuliert. Möglicherweise ist es ihr gelungen, den Tod zu besiegen und das allein Kraft ihres Willens.
Klassischer Stoff aus der Feder Poes, möchte ich sagen. Und damit mehr als passend für RIG, sich dieser Thematik anzunehmen. Ob es nun wie zuletzt bei den Werken „Terror“ oder „Sonne“ seiner Band Janus war oder auch auf früheren Stücken und Alben – literarisch anspruchsvolle Texte, in denen die Protagonist*innen auf diese oder jene Weise den Verstand verlieren, war nicht selten Bestandteil im Œuvre der Band. Und wieder hat sich RIG auf den Hosenboden gesetzt und ein Werk, einen Text, ins Deutsche übertragen. Hier ist es „Wurm“, im Original natürlich aus der Feder Poes. Es kam schon in der Vergangenheit so manches Mal vor, dass sich RIG nicht nur als Autor von feiner Prosa, die den Verstand kitzelt, betätigte, sondern auch als Übersetzer. Es kommt mir „Die Rache des Seemanns“ in den Sinn, im Original „The mariner’s revenge song“ einer Band namens The Decemberists. Oder „Der Mörder in mir“ von Janus’ „Winterreise“, im Original bekannt als „Disarm“ von den Smashing Pumpkins. Warum ich nach wie vor YouTube konsultieren muss, um „Die Rache des Seemanns“ zu konsumieren, anstatt es wie üblich bei Bandcamp zu kaufen, das wissen auch nur die feinen Herren Janus. Aber auch das ist wieder ein eigenes Thema.
Der „Wurmpalast“, so erklärt es RIG auf der eigenen Bandcamp-Seite, erzähle „eine fiebrige Mär über Zwangsheirat, Liebeswahn und Vergänglichkeit“ – und knüpft damit inhaltlich konsequent an das an, was Poe in seiner Erzählung vorgegeben hat. Wie das (eigentlich später erschienene) „Sonne“ bildet „Wurmpalast“ damit eine sehr spannende, sehr eigenwillige und vor allem auch sehr einzigartige Symbiose aus Musik und Literatur. Und auch wenn dieses Mal nicht Janus auf dem Etikett steht – ein RIG kommt eben nicht aus seiner Haut. Sofern Euch „Terror“ und „Sonne“ noch in den Ohren klingeln, dann wisst Ihr im Prinzip schon, was hier musikalisch auf Euch angerollt kommt: Eine wirklich massive Welle aus Doom Metal, das in weiten Strecken keine Gnade kennt. Musikalisch gibt es quasi mit dem Kantholz in die Kauleiste, den Rest regelt der schaurige Inhalt. Und damit RIG, der hier einmal mehr sämtlichen Wahnsinn, den die zugrunde liegende Story mitbringt, ins Mikrofon schreit, brüllt, singt und faucht, nicht ganz allein auf weiter Flur unterwegs ist, hat er sich Verstärkung mitgebracht. So hören wir im Stück „Ligeia“ Lucy van Org, auf „Wurm“ übernimmt Tobias Schönemann den Part des Gastgesangs. Es mag sich wild anhören, bei Metal-Geballer diesen Vergleich zu ziehen, ich mache es dennoch: Dies alles sorgt dafür, dass sich „Wurmpalast“ beinahe mehr wie ein ziemlich abgefahrenes Hörbuch anfühlt und gar nicht so sehr wie ein klassisches Album. Der überschaubare Umfang von 25 Minuten, verteilt auf 4 Songs, trägt sicher zu diesem Eindruck bei.
Es gibt in der Musiklandschaft nur wenige Kunstschaffende und Bands, die ich für wirkliche Unikate halte. Das soll die Leistung aller anderen nicht in Abrede stellen oder deren Schaffen irgendwie herabwürdigen, keinesfalls! Und doch denke ich manchmal, dass es für diese Unikate eigene Genre-Klassifizierungen bräuchte. Das österreichische Sci-Fi-Elektro-Projekt mind.in.a.box ist ein Beispiel dafür. Janus/RIG ist ein anderes. „Wurmpalast“ ist einmal mehr gleichermaßen verstörendes wie betörendes Kunstwerk geworden, das schlussendlich schon wieder viel zu groß geraten ist, um in Worten adäquat umschrieben zu werden. Natürlich könnte an dieser Stelle eine Abfolge von Adjektiven und Etiketten stehen, die man „Wurmpalast“ auf das Cover drucken könnte. Episch zum Beispiel, oder brachial, oder clevere Texte treffen auf schaurig-schöne Grundstimmung und eskalieren in maximalem Krach und Gewüte. Oder, oder, oder. Das erspare ich mir und Euch an dieser Stelle.
Geht Euer Anspruch an Musik über Poe-Poe pudernde Popmusik mit der Halbwertszeit von Eintagsfliegen hinaus? Habt Ihr Bock auf ein Album, das möglicherweise nicht so gut ins Ohr geht wie Peter Alexander, dafür aber deutlich länger im Gedächtnis bleibt? Ist da Interesse an einem Werk, das auf dem Schaffen eines anderen basiert und somit die Türe aufstößt, weiter abzutauchen und mal zu schauen, was es da sonst noch so gibt? Oder wird vielleicht einfach nur mal Mucke gebraucht, die für Euch richtig Dampf ablässt und behilflich ist, eigenen Frust zu kanalisieren? Wenn auf eine oder alle dieser Fragen ein Ja als Antwort steht, dann kommt Ihr an „Wurmpalast“ nicht vorbei.
So. Und damit könnt Ihr Stifte und Hefter wieder beiseite packen. Wie zuletzt schon vermutet, habe ja doch wieder nur ich den Aufsatz geschrieben. Sollte sich RIG, entweder wieder allein oder zusammen mit Janus-Kollege Toby, erneut mit dem Werk Edgar Allen Poes befassen: wie wäre es denn mit dem „Untergang des Hauses Usher“? Ich könnte mir das sehr gut in einer Janus-Variante vorstellen. Bis es so weit ist, oder bis zur nächsten „All die Geister”-Erzählung gibt es mit „Wurmpalast“ und „Sonne“ ganz schön viel ganz schön gute Musik auf die Ohren. Es war eben doch nicht alles schlecht in 2024.
After our recent deep dive into Sonne, the Woyzeck-inspired album by Janus, went so well, let’s do it again. Pens and notebooks out, please—we’re writing another essay. It makes sense, really, since we’re once again dealing with a fascinating fusion of literature and music: Edgar Allan Poe and his story Ligeia.
Poe’s life and work have been, and continue to be, an inexhaustible source of inspiration. In the mere 40 years he spent on this earth, he wrote numerous short stories, often categorized as crime fiction or horror/gothic literature. His work is also said to have influenced later science fiction authors, such as Jules Verne.
But it’s not just Poe’s work that stands out—his life does too. And maybe, just maybe, we need to ask whether and how separating the art from the artist is even possible in his case. Because let’s be real: a guy who marries his first cousin and fudges her age from 13 to 21 so the whole thing seems less scandalous—while being 27 himself—yeah, that’s a lot. Sure, maybe that was perfectly acceptable in 1836, but that doesn’t make it any less unsettling. Feels a bit like the Till Lindemann situation, where a 60-year-old grandpa hooks up with a 20-something. Gives me the creeps. Brrr. Makes me think of Kanye in Bayreuth by Kettcar, a song that explores how separating art from the artist is never simple and how morality in this context is never objective. But let’s not open that can of worms here. We can dissect Poe’s life another time. For now, let’s stick to Ligeia, a truly peculiar reincarnation story. And who better to take on such a theme than Janus? Well—technically, this time, it’s not Janus but a solo album by Janus frontman and lyricist Dirk “RIG” Riegert. But, as the saying goes, the apple doesn’t fall far from the tree.
Still remember Ligeia? Or were you, like me, conveniently out fetching chalk when this was covered in school? If, for some reason, you don’t recall what it’s about, here’s a quick refresher. The nameless protagonist, hanging out somewhere along the Rhine (because, you know, it’s nice there), falls head over heels for the local beauty, Ligeia. Immortality is kind of her thing. She firmly believes that human willpower alone determines whether one lives or dies. Someone please make sure Wendler, Naghavi, Naidoo, or Dero don’t hear about this, or they’ll be spewing similar nonsense on their Telegram channels.
But death has little interest in Ligeia’s philosophical musings and takes her anyway. Tja. The German answer to everything.
The narrator, however, wastes no time and marries the next village beauty, Rowena. But love? Not so much. More like resentment—because no matter what Rowena does, she’s just not Ligeia. And, surprise, surprise, this relationship doesn’t last either—mostly due to Rowena’s unfortunate inability to stay alive. But on her deathbed, as she repeatedly rises only to collapse back into lifelessness, it becomes clear: Maybe Ligeia’s ideas about conquering death weren’t all that crazy after all. Maybe she really did manage to defy death—through sheer willpower alone.
Classic Poe, right? Which makes it the perfect subject matter for RIG to explore. Whether it was Terror, Sonne, or earlier works, Janus has a long history of weaving literary themes into their music, often focusing on protagonists slowly descending into madness. Once again, RIG has put pen to paper and translated a work into German—this time, The Conqueror Worm by Poe, now simply titled Wurm. RIG has done this before, both as a writer of finely crafted prose and as a translator. The Mariner’s Revenge Song by The Decemberists? That became Die Rache des Seemanns. Disarm by The Smashing Pumpkins? That turned into Der Mörder in mir on Winterreise. Why I still have to resort to YouTube to listen to Die Rache des Seemanns instead of buying it on Bandcamp is beyond me, but that’s a whole other discussion.
On his Bandcamp page, RIG describes Wurmpalast as a "feverish tale of forced marriage, love madness, and transience." In doing so, he stays true to Poe’s original vision. Much like Sonne, though released later, Wurmpalast represents a unique and fascinating blend of music and literature. And even though it’s not officially labeled as a Janus album—well, a RIG can’t escape his own nature.
If you’re still reeling from Terror and Sonne, you already have an idea of what’s coming musically: a relentless tsunami of doom metal, completely unforgiving. Sonically, it’s like getting smacked in the face with a two-by-four, while the harrowing subject matter does the rest. RIG screams, growls, sings, and snarls his way through every ounce of madness the story has to offer. He’s not entirely alone in this endeavor—guest vocalists join him, with Lucy van Org appearing on Ligeia and Tobias Schönemann lending his voice to Wurm. And while comparing this to metal mayhem might seem odd, I’ll say it anyway: Wurmpalast feels almost more like a wildly immersive audiobook than a conventional album. Its tight 25-minute runtime, spread across four tracks, only reinforces that impression.
There aren’t many artists or bands I’d consider true one-of-a-kinds. That’s not to diminish anyone else’s work, of course. But sometimes, I think these true originals need their own genre classifications. Take the Austrian sci-fi electro project mind.in.a.box, for instance. Or Janus/RIG. Wurmpalast is, once again, both disturbing and mesmerizing—a piece of art so vast that mere words fail to do it justice.
Sure, I could slap a bunch of adjectives onto it—epic, brutal, intellectually gripping, eerily beautiful yet explosively violent—but I won’t.
Instead, let me just ask:
Do you crave music that goes beyond bubblegum pop with a half-life of a mayfly?Are you up for an album that might not be as easy on the ears as Peter Alexander but will definitely stick with you much longer?Do you like the idea of a work that’s rooted in classic literature, opening doors for further exploration?Or do you just need some music that lets you unleash your own pent-up frustrations?
If you answered yes to any (or all) of these questions, Wurmpalast is the album for you.
And with that, you can put away your pens and notebooks. As I suspected, I ended up being the only one writing this essay anyway.
If RIG—either solo or alongside Janus bandmate Toby—decides to tackle Poe again, how about The Fall of the House of Usher? I could totally see that working as a Janus-style adaptation.
Until then, or until the next All die Geister release, there’s already more than enough excellent music to devour with Wurmpalast and Sonne.
Turns out, 2024 wasn’t all bad after all.
Post originally published on November 26, 2024
Roman Empire