[English version below]
An Samsas Traum scheiden sich die Geister. Diese Band polarisiert, wie kaum eine andere. Gerade erst führte ich diesbezüglich Gespräche mit Freund*innen. Für die einen ist die Band um Alexander Kaschte schon seit Jahren DIE musikalische Offenbarung überhaupt. Die anderen fanden ihr Tun immer schon doof. Wieder andere warfen bei Festivalauftritten T-Shirts auf die Bühne, auf denen „Ich hasse Alexander Kaschte. Der Typ labert nur scheiße“ geschrieben stand. Ungeachtet dessen, was man von der Person Kaschte und seiner Musik auch halten mag, ist eines unstrittig: Den Weg des geringsten Widerstandes ist er nie gegangen. Unbequeme Themen waren seit jeher Markenzeichen von Samsas Traum. Manchmal aus persönlicher Sicht, manchmal von globalem Standpunkt aus betrachtet. „Weil es für jemanden, der Extreme liebt, keine leichten Wege gibt“, wie er einst so treffend sang. Diesem Sinnbild für das Schaffen Samsas Traums bleibt er auch auf dem neuen Album „Poesie: Friedrichs Geschichte“ treu. Und was sich vom Titel her so romantisch, so sanftmütig anhört, ist in Wirklichkeit künstlerische Aufarbeitung schlimmster Verbrechen des Nazi-Deutschlands. Eindringlicher Geschichtsunterricht aus dem Hause Kaschte? Bitte sehr.
Hadamar. Heute eine Kleinstadt in Hessen, mit rund 12tausend Einwohnern, irgendwo zwischen Köln und Frankfurt gelegen. Vermutlich würde kein Mensch außerhalb des Dunstkreises dieses Städtchens heute noch groß Notiz davon nehmen, wenn sie nicht zwischen 1941 und 1945 die Tötungsanstalt Hadamar (mich schaudert schon allein beim Niederschreiben dieses Begriffs!) beheimatet hätte. Im Rahmen des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms wurden in dieser Zeit ca. 14.500 Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen vorsätzlich hingerichtet. Dies erfolgte durch Vergiftung mit Medikamenten, Spritzen, Verhungernlassen oder Vergasung. Anschließend wurden die Toten in einem Krematorium verbrannt. In diese entsetzliche Zeit hinein, die heute so unfassbar erscheint, legt Kaschte die Handlung seines neuen Albums.
Er erzählt hier die Geschichte von Friedrich, einem Jungen, der zur Zeit des Nationalsozialismus aufwächst und dessen große Leidenschaft die Gedichtschreiberei ist. Ein harmloser Träumer in einer grausamen Welt. Sein Umfeld betrachtet ihn indes als verhaltensgestört, die Ärzte diagnostizieren eine Schizophrenie – und schon bald ereilt auch Friedrich das Schicksal tausender anderer, die mit Bussen nach Hadamar gekarrt und deren Leben dort auf grausamste Weise beendet werden.
Nach dem rein instrumentalen Intro „Es ist der Tod“, das mit den typischen Klängen Samsas Traums aufwartet (vornehmlich synthetische Streicher über melodisch-metallischem Gitarrengewitter) wirft uns Kaschte direkt hinein in die Erzählung, die zumindest mir ein ums andere Mal ein Gefühl der Beklommenheit und des Entsetzens hervorgerufen hat. Wenn er im zweiten Stück „Sauber“ singt:
Sollten Sie nicht alle Kranken rechtzeitig erfassen,
behalten wir uns vor, Ihnen Besuch schicken zu lassen –
für den Führer und das Vaterland, die Reinheit deutscher Sippen,
sind die Bögen ausnahmslos mit der Maschine zu betippen
und weiter, im gleichen Stück:
Melden Sie dem Reichsminister Schwachsinn jeder Art, ob man
Kriminelle, Geisteskranke bei Ihnen verwahrt,
Schizophrene, Epileptiker, Verstörte und Senile,
melden Sie Dauergäste, N* und Debile.
dann wird mir erst recht ganz komisch. In einer Zeit, in einem Land, wo Geflüchtete – die Ärmsten der Armen – bespuckt, bepinkelt und mit Gewalt jedweder Form gequält werden, einem Land, wo ebendiese Geflüchteten mit farbigen Armbändern markiert werden – in so einer Zeit und so einem Land sind wir, fürchte ich, nicht mehr so weit weg von dem, was Kaschte hier besingt. Und was sich alles schon einmal auf unserem Boden abgespielt hat. Immer öfter denke ich, Nazi-Deutschland ist schon wieder viel zu dicht an uns dran.
Das Tötungslager Hadamar ist der rote Faden, der sich hier durch Friedrichs grausame Geschichte zieht. So wird zum Beispiel Hans Bodo Gorgaß, Vergasungsarzt (diesen Begriff muss man auch erst einmal sacken lassen!), mit einer wütenden Anklage im Stück „Gorgass“ bedacht. Der Einführung des Grundgesetzes 1949 hat dieses kranke Schwein, das stets von der Notwendigkeit der Euthanasie überzeugt war, es zu verdanken, dass er nach seiner Verurteilung zum Tode wegen Mordes in mindestens 1000 (in Worten tausend!) Fällen im Jahre 1947 nicht hingerichtet wurde. Nach seiner Haftentlassung, die auf 15 Jahre verkürzt wurde (und was einer weiteren, zum Himmel stinkenden Ungerechtigkeit gleich kommt), ließ sich Gorgaß in Bielefeld nieder und wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Pharmaunternehmens. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie sehr ich allein bei der Vorstellung daran gerade kotzen möchte. Aber, Gorgaß, Deine Taten sind nicht vergessen. Die Anklage Deiner Taten ist nun auf alle Zeiten in Musik gebannt:
Ich, der gottgleich über anderer Seelen hat gerichtet,
Ich, der niemals heilte, ich, der Kranke hat vernichtet,
vierundvierzig lange Jahre waren mir dann noch gegeben,
ausgerechnet ich, Vergasungsarzt, ich durfte leben.
In anderen Momenten ist die Angst, die Verzweiflung der zur Tötung vorgesehenen „Patienten“ förmlich greifbar („Wir fahren in den Himmel (Und ich kotze Angst)“). Abschließend stellt Kaschte noch eine wichtige Frage. „Was weißt du schon von mir? (Mein Name ist Friedrich)“. Die meisten Opfer des Nationalsozialismus sind heute so entsetzlich namen- und gesichtslos. So viele Schicksale, von denen niemand mehr erzählt, die alle in einer großen, einer unfassbaren Zahl zusammengefasst sind. Vielleicht ist Friedrich fiktiv, vielleicht wurde die Figur durch das Jugendbuch „Damals war es Friedrich“, veröffentlicht Anfang der 1960er Jahre von Hans Peter Richter, inspiriert. Vielleicht gab es ihn wirklich. Sein Schicksal war aber ganz gewiss nicht fiktiv. „Der Mönchberg (Heinrichs Gedicht)“ stammt nur zum Teilen aus Kaschtes Feder. Es basiert auf einem Gedicht des Patienten Heinrich K., der vermutlich auch einer der 14500 getöteten Gefangenen war. In ihrem Wahn feierten die Nazis anlässlich des 10tausendsten getöteten Opfers in Hadamar ein Fest, eine perverse Form der Betriebsfeier. Ansprachen des Direktors und einer Flasche Bier für alle inklusive. Auch dieses widerliche Ereignis findet sich auf diesem Album wieder („Leiche 10000“).
Alexander Kaschte gibt den vielen Toten, die in dieser Tötungsanstalt ihr Leben lassen mussten und die heute vielleicht niemand mehr kennt, weil keiner mehr da ist, der sich an sie erinnern kann, eine Stimme. Macht ihr grausames Schicksal unvergessen und lässt dieses Album wie ein Mahnmal wirken. Eines, das in seiner Intensität, seiner Wichtigkeit und Dringlichkeit nicht genug hervorgehoben werden kann. Ehrlich, es kommt so viel musikalischer Mist Jahr für Jahr auf den Markt, so viel belangloser Scheiß ohne Seele, ohne Inhalt, dass ein Album wie dieses ganz besonders hervorsticht. „Poesie: Friedrichs Geschichte“ gehört fortan in den Schulunterricht, wenn der Schrecken und die Grausamkeiten des Nazi-Regimes erörtert werden. Aufklärung zur Verhinderung. Ergänzend eben zu „Damals war es Friedrich“, „Der Junge im gestreiften Pyjama“ oder „Schindlers Liste“.
So. Kann man bei einem solchen Album überdies irgendwelche musikalischen Dinge besprechen? Offen gesagt weiß ich das gerade selbst nicht. Euch zu erzählen, dass es musikalisch und im Hinblick auf die Produktion das bisher ausgereifteste, sauberste und klanglich vielfältigste Album Samsas Traums ist, finde ich zwar erwähnenswert, dies sind aber nicht die Dinge, weshalb ich Euch dieses Album als absolute Pflichtanschaffung empfehle. Genauso wenig wie der Umstand, dass sich Kaschte im Stück „Und ich schrieb Gedichte“ auf sein Frühwerk bezieht. Die lächelnde Athanasia und die Frage, warum Motten stets ins Licht fliegen – das kennen wir doch noch von damals? Tineoidea, bist du es? Auch gehört das verstörende Artwork von Anastasia Kaschte nicht zu den Gründen. Nein. Die stehen weiter oben in diesem Text. Alexander Kaschte hat hiermit sein Meisterstück geliefert. Geschichtsstunde, wütende Anklage und (hoffentlich!) Wachrüttler in nur 55 Minuten.
Oh Gott, wie ich dieses Album gerne nehmen und es den ganzen fehlgeleiteten besorgten Bürger*innen da draußen um die Ohren hauen möchte! Ich möchte sie nehmen und schütteln und anschreien: hör dir das an, lerne und begreife endlich! Wach endlich auf, ey! Lerne, welchen grundsätzlich falschen Idealen und Vorstellungen du hinterherläufst. Begreife, dass du genauso aussortiert werden kannst, sobald sich der Wind nur ein wenig dreht und sich krankhafte, ideologische Weltbilder noch weiter ins Extreme verschieben! Und wenn es nicht dich trifft, dann womöglich deine Kinder. Vielleicht, weil sie nur einen leichten Silberblick haben und somit nicht mehr einer wie auch immer gerichteten Norm entsprechen! Oder vielleicht einfach nur, weil jemand ihre oder deine Nützlichkeit bezweifelt – so wie damals ebenfalls geschehen.
Die Zeiten, in denen wir leben, die Strömungen, die immer stärker und lauter werden, sie sind brandgefährlich. Das, was zu Zeiten der Nazis in diesem Land passierte, darf sich niemals wiederholen! Wenn die Stimmen der Rechten immer lauter werden, dann muss die Stimme der Vernunft noch lauter sein und sie übertönen. Demzufolge kann man nicht oft genug darauf hinweisen und nicht oft genug erzählen, was sich in den Jahren von 1933 bis 1945 ereignet hat. Ich danke Alexander Kaschte für dieses richtige, dieses wichtige Samsas-Traum-Album! Ich bin gleichzeitig tief beeindruckt, berührt und erschüttert. Nach meinem Dafürhalten ist Kaschte eine sehr eindringliche künstlerische Aufarbeitung der Gräueltaten der Nazis gelungen. Und spätestens hier darf es keine zwei Meinungen mehr geben, Samsas Traum hin oder her.
Samsas Traum has always been a band that divides opinion. Few others polarize the way they do. I just had another round of conversations with friends about it.
For some, Alexander Kaschte’s project has been the musical revelation for years. Others have always dismissed it as pretentious or overblown.
Still others have thrown shirts on stage during festival gigs that read: “I hate Alexander Kaschte. That guy talks absolute crap.”
But no matter what you think of Kaschte as a person—or his music—one thing is certain: he’s never taken the path of least resistance. Uncomfortable themes have always been a trademark of Samsas Traum—sometimes from a deeply personal perspective, other times from a global viewpoint.
As he once sang so fittingly: “Because for someone who loves extremes, there are no easy paths.”
Kaschte holds true to that ethos on his latest album, Poesie: Friedrichs Geschichte.
And what may sound, from the title, like something romantic or gentle, turns out to be a harrowing artistic examination of one of Nazi Germany’s most horrifying crimes.
A haunting history lesson, Kaschte-style? You got it.
Today, Hadamar is a small town in Hesse with around 12,000 residents—somewhere between Cologne and Frankfurt.
Outside that local context, hardly anyone would take note of the place—if it weren’t for the fact that between 1941 and 1945, Hadamar was home to a Nazi killing facility (and yes, the term alone makes my skin crawl).
Under the Nazi “euthanasia” program, approximately 14,500 people with disabilities or mental illnesses were intentionally murdered there—by poisoning, injection, starvation, or gassing.
Their bodies were then burned in an on-site crematorium.
It’s into this horrifying era that Kaschte places the story of his new album.
He tells the tale of Friedrich, a boy growing up during the Nazi regime, whose passion is writing poetry.
A harmless dreamer in a brutal world.
But society views him as disturbed, and doctors diagnose him with schizophrenia.
And soon enough, he suffers the same fate as thousands of others—rounded up, sent by bus to Hadamar, and murdered in the most inhumane way imaginable.
After the instrumental opener “Es ist der Tod” (typical Samsas Traum: synthetic strings layered over melodic metal guitar walls), Kaschte immediately plunges us into the story.
And at least for me, the sense of unease and revulsion comes quick and hits hard.
In the second track, “Sauber”, he sings (in German):
If you fail to report all the sick in time,
we reserve the right to pay you a visit—
For the Führer and the Fatherland, for the purity of German bloodlines,
every form must be typed without exception.
And later, in the same song:
Report to the Reich Minister any form of imbecility—
Criminals, the insane, the disturbed and senile,
Schizophrenics, epileptics, deviants and defectives,
Report all long-term guests, N* and morons.
These lyrics make my stomach churn.
Especially now.
In a time—and in a country—where refugees, the poorest of the poor, are spat on, urinated on, and beaten.
Where refugees are branded with colored wristbands.
We are, I fear, far closer to the darkness than we like to admit.
Too many things Kaschte sings about have already happened once before—on this very soil.
Hadamar is the red thread that runs through Friedrich’s terrifying story.
One song, “Gorgass”, is a furious indictment of Hans Bodo Gorgaß—a so-called “gassing doctor” (yes, that was an actual job title).
Gorgaß was convicted in 1947 of murdering at least 1,000 people.
He was sentenced to death—but because the German constitution came into effect in 1949, he wasn’t executed.
His sentence was reduced to 15 years, and after release, he went on to work as a scientific advisor for a pharmaceutical company in Bielefeld.
You cannot imagine how violently sick that makes me feel.
But Gorgaß, your deeds are not forgotten.
They’re forever etched into song:
I, who passed godlike judgment on souls,
I, who healed no one, who destroyed the sick,
Forty-four long years were still given to me—
I, the gassing doctor. I got to live.
In other moments, you can practically feel the terror of the condemned patients—like in “Wir fahren in den Himmel (Und ich kotze Angst)” (We’re going to heaven [And I’m puking with fear]).
And in the end, Kaschte asks the most important question of all:
“What do you even know about me?” (My name is Friedrich).
So many of the Nazis’ victims are faceless today.
Just numbers.
Anonymous.
Swallowed by statistics.
Perhaps Friedrich is fictional.
Perhaps the character was inspired by “Damals war es Friedrich”, a 1960s youth novel by Hans Peter Richter.
Or perhaps there really was a Friedrich.
What’s certain is this: his fate was not fiction.
The track “Der Mönchberg (Heinrichs Gedicht)” is only partially written by Kaschte.
It’s based on a poem by Heinrich K., a patient who was likely one of the 14,500 murdered at Hadamar.
In a grotesque twist, the Nazis held a celebration at Hadamar to mark the 10,000th victim.
A “company party” with a speech and beer.
Kaschte covers this, too—in “Leiche 10000” (Corpse 10000).
Alexander Kaschte has given a voice to those countless victims—people who died in Hadamar, whose names are lost, whose stories were never told.
He’s made their fate unforgettable.
This album is a musical monument, one that cannot be praised enough for its urgency, intensity, and importance.
Every year, so much soulless trash is released—music that says nothing, means nothing.
And then, once in a long while, something like this appears.
An album with purpose. With truth.
“Poesie: Friedrichs Geschichte” should be taught in schools.
It belongs in the curriculum when discussing the horrors of Nazi Germany.
It should accompany books like “Damals war es Friedrich,” “The Boy in the Striped Pajamas,” or “Schindler’s List.”
Can we even talk about the music after all this?
Honestly—I don’t know.
Yes, this may be the most polished, diverse, and accomplished Samsas Traum album sonically.
Yes, Kaschte references his early work in “Und ich schrieb Gedichte”—a callback to “Die Zärtlichkeit der Motten,” and the recurring question: why do moths fly into the light?
Yes, the haunting artwork by Anastasia Kaschte deserves mention.
But none of these are the reason I’m telling you this album is mandatory listening.
No—those reasons are above.
This album is Kaschte’s magnum opus.
A history lesson, a furious indictment, and—hopefully—a wake-up call.
All in just 55 minutes.
I wish I could take this album and shove it into the ears of every so-called “concerned citizen” out there.
Shake them. Scream at them:
Listen to this.
Learn from it.
Understand.
Wake the hell up!
Realize what poisonous ideologies you’re flirting with.
Understand that you, too, could be discarded—if the winds shift just slightly.
You. Your children.
Maybe because of a lazy eye.
Or maybe because someone deems you no longer “useful.”
That’s how it happened before.
We are living in dangerous times.
The rising voices of the far right must be drowned out—by voices of reason, of truth, of history.
And you cannot repeat this history if you never forget it.
So thank you, Alexander Kaschte, for this vital, urgent, and devastating album.
I am deeply moved. Disturbed. Shaken. And grateful.
In my view, Kaschte has created one of the most powerful artistic reckonings with Nazi atrocities to date.
And on this, finally—there can be no debate.
Samsas Traum fan or not.
Roman Empire