[English version below]
Ich halte Ronan Harris schon lange für einen sensiblen Menschen und Musiker, der seine Umwelt – bzw. die Welt, in der wir leben – sehr genau beobachtet und, so wirkt es immer wieder auf mich, daran so manches Mal zu verzweifeln scheint. Daran, dass Menschen scheinbar nicht aus ihrer Haut kommen, gefangen in ihrer offenbar genetisch einprogrammierten Zwangshandlung, sich selbst zu richten. Anders lässt sich das selbstzerstörerische Verhalten der Spezies Mensch kaum noch umschreiben. So wie Menschen, deren Leber schon schreit, wenn sie nur am Schnapsregal vorbeilaufen, sich aber trotzdem noch die Kante geben. Flüßiges Glück, olé! Oder Rauchende, die bereits Blut ins Taschentuch husten, sich aber dennoch schnell noch mal die letzte Zigarette drehen. Und noch eine. Bis es wirklich die letzte war und nur noch Palliativmedizin die verbleibende, knappe Zeit bis zum Weg ins Jenseits erträglicher macht.
Würde man das ohnmächtige Gefühl, das man als Zeuge oder warnende Person in solche Fällen erlebt, in Musik gießen wollen, es kämen wohl die Worte und Töne dabei heraus, die Ronan Harris ein ums andere Mal in ein VNV Nation-Album hat einfließen lassen. Diese Musik zu hören löst freilich keine Probleme, sie wird auch keine dritten Personen retten. Aber es mindert die Gefahr, aus Verzweiflung und Ohnmacht die Farbe von der Wand zu beißen.
Ein schönes Beispiel für Ronans Betrachtung der Welt ist wohl direkt das Titelstück und der Opener des Albums, „Electric Sun“, eine schwere, stampfende Nummer, die Assoziationen weckt an Menschen, die sich mit schwerem Gepäck einen Berg hinauf mühen, immer der Sonne entgegen. Nur um dort festzustellen, dass am Gipfel nichts mehr wartet. Ein Sinnbild für die Menschheit, die sich durch die Entwicklung rasant lernender KI selbst zum Schöpfer aufschwingt. Wie das alles ausgehen wird, darüber können wir lange und breit philosophieren. Ich bilde mir ein, Klangelemente zu hören, wie sie auch schon bei „Requiem For Wires“ (vom Album „Noire“) oder „Teleconnect Pt. 2“ (von „Transnational“) zum Einsatz kamen und die Dringlichkeit dieses Lieds untermauern – und gleichzeitig auch Kreise schließen zu den Vorgängern. „Laments for what is gone / Running backwards, crying „forward“ / Like a battle can be won“, heißt es hier und plötzlich kommt es mir vor, als erzählte Ronan gewissermaßen eine Vorgeschichte eines Songs, der auf einem früheren Album stattgefunden hat. In diesem Fall besagtes „Requiem For Wires“, das damals tönte wie die Musik einer Welt, in der die Lichter für die Menschen final ausgegangen sind. Dieses eher verschwommene Gefühl eines Prologs überkommt mich hier nicht zum letzten Mal auf diesem Album.
Im Gegensatz zum direkten Vorgänger „Noire“ wirkt „Electric Sun“ irgendwie introvertierter, irgendwie nachdenklicher und melancholischer. Das Pressefoto, bei dem Ronan sich selbst im Spiegel anschaut, wirkt da beinahe schon symbolisch. Gewiss werden die verlorenen Jahre der Pandemie ihren Anteil daran gehabt haben. „Noire“ habe ich als ziemlich großen Pauken- bzw. Rundumschlag hinsichtlich der Gesamtgesellschaft in Erinnerung; „Electric Sun“ hingegen wirkt wie die Vertonung von Gedanken und Fragen eines Mannes, der in der Lebensmitte angekommen ist und bei dem die ganz großen Fragen eher persönlicheren Themen und Ansichten gewichen sind. Die große Unbekannte ist nicht mehr nur: wohin gehen wir, was wird aus uns, sondern, so scheint es mir, auch: wohin gehe ich? Was wird aus mir? Was nicht heißen soll, dass Ronan nicht immer noch im großen Stil die Keule auspackt, inhaltlich wie musikalisch.
Ich möchte „Prophet“ als Beispiel nennen, die schnellste, treibendste Nummer dieses Albums. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie Konzertbesuchende bei diesem Straßenfeger kollektiv in tänzerische Ekstase verfallen und hunderte Kehlen unisono die Hookline in die Nacht brüllen: „Give your life in sacrifice, as if all will love you“. In den restlichen Textzeilen schlummert unverhohlene Kritik an Seelenfängern aller Art, die gefühlt schon immer mit halbseidenen Versprechungen die Menschen wozu auch immer bewegt haben. Die Religionen dieser Welt sind hier wohl aufgrund ihrer Jahrtausende anhaltenden Erfolgsgeschichte ganz vorn am Pranger, aber bei weitem nicht die Einzigen. Wir könnten den Bogen jetzt noch weiter aufspannen und Verschwörungsheinis (am besten jene, die nach Spenden betteln, um ihren vermeintlich gerechten Kampf zu finanzieren („We’ll sell you meaning, when you buy our love“) und so jenen, die darauf hereingefallen sind das Gefühl geben, irgendwas bewegt zu haben), Influencer oder Sekten aller Geschmacksrichtungen einbeziehen, aber ich denke, Ihr wisst, worauf ich hinaus möchte. „We sell you salvation, the wages of sin must be paid / Our methods span the ages, all we do is change the name“, singt Ronan zu der einnehmend euphorischen Melodei und gestattet sich damit einen genialen Kunstgriff. Das Gefühl von Gemeinschaft, das Gefühl, nicht allein und abgehängt zu sein, das Gefühl, irgendwen oder irgendwas als Sündenbock zu haben – all das ist in der Geschichte immer wieder auch in einnehmende Melodien zum Mitträllern verpackt worden.
Aber wie gesagt, nicht immer ist es diese ganz große Betrachtung. Manchmal wird es auch sehr viel kleiner, fokussierter, so wie im wunderschönen und balladesken „At Horizon’s End“, das auf mich ein wenig so wirkt, als sei es die musikalische Vorgeschichte zu „Collide“ vom Vorgängeralbum. Bisschen ist „At Horizon’s End“ die umgekehrte Betrachtung zu dem Trinker oder dem Raucher, den ich vorher erwähnte. Die Hand auf der Schulter all jener Personen, die ihren Weg in dieser Welt, voll mit dem Getöse aus Hiobsbotschaften, nicht mehr sehen oder verloren zu haben glauben. Die akustische Mutmachung für jene, die nach dem Sinn fragend durch das Leben stolpern, vielleicht sogar schon zu dicht am Abgrund tanzen. Natürlich hat Ronan weder Antworten noch Lösungen parat. Nur eine Gabe, das Gefühl zu vermitteln, zu verstehen und einer von ihnen zu sein. Was manchmal schon sehr viel mehr ist, als man erwarten darf, schätze ich, und wohl auch einer der Faktoren dafür, warum sich VNV Nation in der Szene, in der dieses Projekt zu Hause ist, solch enormer Popularität erfreut.
Ähnlich verhält es sich auch bei dem pompösen, beinahe schon bombastischen „Run“, das ich mir unter anderen Umständen übrigens auch ganz wunderbar mit Dudelsack instrumentiert vorstellen könnte. Das in diesem Lied ausgedrückte Gefühl von Heimatlosigkeit kann so vieles sein und durch so viele Dinge hervorgerufen werden. Speziell Menschen, die depressive Phasen durchleben (aber nicht nur diese), werden den Wunsch, nach Hause zu kommen, sicher nur allzu gut kennen – verbunden mit der gleichzeitigen Frage: Was ist das noch, dieses zu Hause? „When what I know and love is gone / Where should I go? Where should I run?“, singt Ronan hier und in kleinteiliger Betrachtung könnte dies ein Elternhaus sein, das man dereinst im Streit verlassen hatte. Kein Kontakt, bis sich irgendwann ein Nachlassverwalter meldet, mit der Frage, ob man das Erbe antreten möchte. Oder vielleicht war es auch kein Streit, sondern die Ohnmacht, geliebte Menschen von ihrem selbstzerstörerischen Trip abzubringen? Die Erkenntnis gar, dass man zeit seines Lebens einem Ideal gerecht werden wollte, nur um festzustellen, dass man den falschen Dingen nachgerannt ist, dass man die falschen Menschen beeindrucken wollte? Wie so oft bieten die Texte von Ronan Harris auch auf „Electric Sun“ viel Raum für persönliche Interpretationen. Oder anders gesagt: Die Schuhe, die Ronan hier hinstellt, dürften wieder auf ganze viele Füße passen.
Ach, es gäbe so viel zu erzählen über die 12 Songs dieses Albums, die sich auf eine Spielzeit von einer guten Stunde verteilen. So viel zu interpretieren, so viel zu diskutieren. Und es ließen sich auch viele Worte darüber verlieren, dass es hinsichtlich der Produktion ein dolles Ding geworden ist. Die musikalische Ausgestaltung der Lieder ist freilich Geschmackssache. Manche Hörer*innen werden sich davon sofort abgeholt fühlen, andere benötigen vielleicht ein wenig, bis es zündet, wieder andere wird auch der neueste Streich aus dem Hause Harris überhaupt nicht bewegen. So ist das eben. Anerkennen muss man aber, dass sich Ronan Harris alle Mühe gegeben hat, dem Album ein Höchstmaß an Abwechslung angedeihen zu lassen. Es gab in der Vergangenheit vorwiegend unter den Instrumental-Tracks Kandidaten, die sich schnell zu welchen entwickelten, die bei neuerlichem Konsum eines Albums übersprungen wurden. Und wenn ich an dieser Stelle sehr verallgemeinere, dann tue ich dies aus Beobachtungen aus meinem Dunstkreis heraus, denke aber, mich damit nicht allzu weit aus dem Fenster zu lehnen. „Electric Sun“ habe ich inzwischen etliche Male gehört, in unterschiedlichsten Situationen: im Auto, bei einem abendlichen Spaziergang durch mein Viertel, auf dem Bette liegend, mit geschlossenen Augen und Kopfhörern. Der Gedanke, einen Song zu überspringen, der kam mir bisher noch nicht.
In einem emotionalen Beitrag bei Facebook erklärte Ronan, „Electric Sun“ sei wie die Musik zu einem Film, der noch nicht gedreht worden sei. Dem möchte ich gleichermaßen zustimmen, wie auch widersprechen. Cineastischer war ein Album von VNV Nation bisher möglicherweise noch nie, nicht zuletzt, weil es so enorm rund wirkt. Gleichzeitig: der Film, dessen Szenen hier von Ronan in Makro-Aufnahmen sowie in der Supertotalen beschrieben werden, in dem stecken wir mittendrin. Die Zeit wird zeigen, ob es nach all den Katastrophen und schlechten Voraussichten noch ein Happy End gibt. Ich habe leise Zweifel und bin mir beinahe sicher: Ronan auch. Wem es ähnlich geht, findet möglicherweise einmal mehr ganz viel Trost und Zuspruch in der Musik von VNV Nation.
Wem das egal ist oder all das ausblenden kann (oder will), bekommt mit „Electric Sun“ aber immer noch ein Weltklasse-Album, irgendwo angesiedelt zwischen FuturePop und Indie-Electronica, und dem das Herzblut und die Hingabe, mit dem es entstanden ist, deutlich anzuhören ist. Mit der Hand am imaginären Hut sage ich: Vielen Dank, Mr. Harris, so einige der neuen Songs werden mich in einer aus diesem oder jenem Grund schwierigen Zeit begleiten, zusammen mit den bisherigen Klassikern, und graue Tage bisschen weniger grau machen.
I’ve long considered Ronan Harris to be a highly sensitive human being and musician—someone who observes the world around him with keen awareness and, at least from my perspective, often seems on the verge of despair at what he sees.
Despair that humanity seems incapable of breaking free from its own destructive instincts. Trapped, it seems, in a genetically hardwired compulsion to bring about its own ruin.
How else to explain the self-sabotaging behavior of our species?
Like people whose livers are already screaming, yet they keep drinking. Liquid happiness, olé!
Or smokers who are already coughing blood into tissues, yet light up one more cigarette. And then another. Until there truly is no more—and palliative care is the only thing left to soften the road to the end.
If you wanted to distill the helplessness you feel as a witness to this kind of slow collapse—this powerlessness to save the ones heading off a cliff—you’d probably end up with the kinds of words and sounds Ronan Harris has poured into his VNV Nation albums time and again.
Of course, listening to this music doesn’t solve anything. It won’t rescue anyone else.
But it might keep you from chewing the paint off the walls in frustration.
A powerful example of Ronan’s worldview might be found right in the title track and opener of the new album: “Electric Sun”.
It’s a weighty, pounding song, conjuring images of people hauling heavy burdens up a mountain—always chasing the sun—only to find nothing waiting at the summit.
A metaphor, perhaps, for humanity elevating itself to the role of creator through the rise of rapidly learning AI.
Where that’s all headed, well… that’s a discussion for another day.
I swear I can hear sonic threads that echo “Requiem For Wires” (Noire) and “Teleconnect Pt. 2” (Transnational)—elements that emphasize the urgency of this track while subtly linking it to previous chapters in the VNV story.
“Laments for what is gone / Running backwards, crying ‘forward’ / Like a battle can be won.”
It hit me like a prequel to Requiem For Wires—a soundtrack to a world still tumbling toward the darkness, not yet swallowed by it.
That eerie feeling of being told a story from before the end.
And it won’t be the last time I feel that on this album.
Compared to its predecessor Noire, Electric Sun feels more introspective. More personal.
There’s a quieter melancholy here.
That press photo of Ronan looking into a mirror? Feels symbolic.
The lost pandemic years likely had something to do with this.
Where Noire felt like a thunderous reckoning with society at large, Electric Sun feels like a man standing at the midpoint of life, pondering the questions that have shifted from global to deeply personal.
It’s not just Where are we going?, but also Where am I going? What becomes of me?
That’s not to say Ronan doesn’t still swing the hammer—both lyrically and sonically.
Take “Prophet”—the most driving, high-octane track on the record.
It’s easy to imagine live audiences losing their minds over this one, fists in the air, shouting the chorus in unison:
“Give your life in sacrifice, as if all will love you.”
Beneath that euphoric melody lies biting criticism of soul-sellers and manipulators—those who, across history, have exploited people with half-truths and hollow promises.
Religion takes a front seat here, naturally, given its millennia of such influence—but it’s hardly alone.
We could easily broaden the lens: conspiracy hucksters, grifters begging for donations to fund their “righteous fight,” influencers, cults of every flavor.
The message is clear:
“We sell you salvation, the wages of sin must be paid / Our methods span the ages, all we do is change the name.”
That sense of belonging.
Of not being alone.
Of having someone to blame.
It’s a powerful lure—and one, as history shows, that pairs quite well with a catchy tune.
But it’s not all grand scale. Sometimes it gets small. Focused.
Like the stunning ballad “At Horizon’s End”—which feels like a spiritual prologue to “Collide” from Noire.
If earlier I mentioned those who self-destruct through substance or self-neglect—this is the opposite.
This song feels like a hand on the shoulder of someone standing at the edge.
A whispered, You’re not alone.
For those lost in noise and dread, for those asking what it all means, or whether it’s worth going on—this is a balm.
Ronan doesn’t offer solutions or easy answers.
Just a deep sense of I see you.
And sometimes, that’s more than enough.
That’s also why VNV Nation has become so beloved in the scene it helped shape.
Similarly, the almost cinematic “Run” channels a powerful yearning for home.
It’s not hard to imagine this one with bagpipes, honestly—it has that epic quality.
But what does home even mean?
“When what I know and love is gone / Where should I go? Where should I run?”
It could be a childhood home, long lost. A family connection broken.
Maybe a legacy of trying to live up to expectations—only to realize they were never yours to begin with.
As always, Ronan’s lyrics leave plenty of room for interpretation.
The shoes he sets out to fill could fit many feet.
There’s so much to say about the twelve tracks on this album, which span just over an hour.
So much to reflect on, dissect, interpret.
And yes, we could talk for ages about how incredibly well-produced this album is.
Musically, not every track will be for everyone.
Some listeners will fall in love instantly.
Others may need a few spins.
Still others may feel nothing.
And that’s fine.
But no one can deny how much care Ronan poured into making Electric Sun a varied, dynamic, lived-in album.
In the past, some instrumental tracks felt like filler—songs you might skip on repeat listens.
Here? I’ve spun Electric Sun countless times—on walks, in the car, lying in bed with headphones—and not once have I felt the urge to skip a single track.
In an emotional Facebook post, Ronan described Electric Sun as the soundtrack to a film that hasn’t been made yet.
And I both agree and disagree.
Cinematically, Electric Sun is likely VNV’s most cohesive, sweeping work yet.
But that film?
We’re already in it.
Ronan captures it in wide shots and macro close-ups.
The catastrophes. The uncertainties. The questions that remain.
Will there be a happy ending?
I have my doubts.
I think Ronan does too.
But for those of us who feel the same—who carry the weight and wonder if it’s all too much—this album might offer comfort. Solidarity. A place to breathe.
And even for those who don’t care about the themes—or who choose to tune them out—Electric Sun still stands tall as a world-class album, somewhere between FuturePop and Indie Electronica.
A record that wears its heart and craft on its sleeve.
So with my hand to my imaginary hat:
Thank you, Mr. Harris.
Some of these new songs will walk with me through tough times, just as your older ones have.
They’ll make gray days a little less gray.